Die Kathedrale von Chartres zählt zu den wichtigsten Denkmälern des Abendlandes. Wie ein stummer Zeuge verlorener menschlicher Grösse und vergessenen Wissens birgt dieses imposante Bauwerk kosmische Weisheiten in sich.
"Der Kosmos ist von Gott beseelt." Wenn es einen Satz gäbe, in dem sich die gesamte Architektur, Mathematik, Philosophie und Kosmologie der Kathedrale von Chartres und der Chartreser Schule zusammenfassen ließe, dann wäre es dieser. Das Wort ‚Kosmos' drückt im Griechischen die ‚Ordnung, Vollkommenheit und Schönheit' aus, die den Mikrokosmos des Menschen und seiner Welt mit dem Makrokosmos des Universums verbindet.
Und in der Mitte dazwischen befindet sich die Kathedrale von Chartres, deren schwindelerregende Höhe - die beiden Türme des Westportals sind ungefähr 110 Meter, das Kirchenschiff im Inneren gegen 37 Meter hoch - den kleinen Menschen mit dem großen Universum verbindet.
Wir kennen Chartres heute als mittelalterliche gotische Kathedrale. So wird sie auf allen Abbildungen dargestellt, und so schätzen sie die Millionen Besucher aus aller Welt, die sie jährlich besuchen. Doch der zwischen 1194 und 1220 errichtete Bau, der bis heute nahezu unbeschadet geblieben ist, war keineswegs der erste im französischen Kleinstädtchen Chartres auf dem Granithügel, der aus der Kalksteinebene der Beauce herausragt. Der Ursprung der Kathedrale verliert sich im historisch-mythologischen Dunkel. Bereits in vorchristlicher, keltischer Zeit soll der Ort, an dem heute die Kathedrale steht, ein bedeutendes druidisches Heiligtum mit Dolmen und Brunnen gewesen sein.
Mit seinen gigantischen Ausmaßen - das Kirchenschiff ist circa 130 Meter lang und 48 Meter breit - ist Chartres eine der größten Kathedralen des Abendlandes und gewissermaßen der Prototyp für alle weiteren gotischen Kathedralen. Die europäische Gotik nahm in Frankreich in St. Denis und Chartres ihren Anfang. Im Umkreis von nur 150 Kilometern um Paris finden sich etwa 200 weitere größere und kleinere gotische Kirchen. Die Notre-Dame-Kathedralen von Bayeux, Rouen, Amiens, Laon, Reims, Paris, Chartres und Evreux bilden, wie Louis Charpentier festgestellt hat, das Sternbild der Jungfrau auf der Erde ab und sind alle Maria geweiht; hierin ruhen, wie man vermuten darf, noch weitere unerschlossene Geheimnisse, die auf Beziehungen zwischen Astronomie und Architektur hinweisen.
Fest steht schon heute, daß die kunsthistorische Behauptung, es gebe eine architektonische Entwicklung von der Früh-, über die Mittel- zur Spätgotik, falsch ist; auch sind frühe gotische Kirchen nicht niedrig, und späte nicht unbedingt hoch. Denn Chartres beweist in allem das Gegenteil: Die Kathedrale ist nicht nur eine der ersten gotischen Kirchen, sondern zugleich eine der größten, höchsten und in ihrer Gestaltung vollkommensten; sie demonstriert eindrucksvoll, daß sich das Wissen um den Bau solcher Kirchen (Stil und Statik) nicht peu à peu entwickelt haben kann, sondern von Anfang an vollständig vorhanden war.
Dieses Wissen speist sich aus unbekannter Quelle. Es gibt jedoch Vermutungen und einige Spuren, die zu den Templern führen.
Will man die Proportionen von Chartres ergründen, so braucht man einen ebenso einfachen Ansatz wie die damaligen Baumeister, um ihre Grundgedanken nachzuvollziehen. Diesen Ansatz fand ich in der Anwendung der Blume des Lebens auf das Kirchenschiff. Die Blume des Lebens ist eines der geometrischen Urmuster, das zum uralten Menschheitswissen gehört. Es findet sich nachweislich bereits in Ägypten, und zwar am Tempel von Abydos, wie beispielsweise auch in den Aufzeichnungen Leonardo da Vincis. Die Blume des Lebens besteht aus einem Kreis in der Mitte, der metaphysisch als Gott interpretiert wird. Um diesen Kreis herum ordnen sich in gleichmäßigen Abständen konzentrisch weitere Kreise an, bis es insgesamt 19 Kreise sind, die von zwei Kreisen umschlossen werden.
Die Vervielfachung des ursprünglichen ‚göttlichen' Kreises in der Mitte symbolisiert die Entfaltung Gottes in das Universum durch Anwendung eines immer gleich bleibenden Prinzips, nämlich der Hinzufügung weiterer gleich großer Kreise in gleichen Abständen, die durch die Schnittpunkte vorgegeben sind.
Die Blume des Lebens ist nicht nur zwei-, sondern auch dreidimensional und unendlich weiter fortführbar zu denken. Aus der Blume sind durch Verbindung entsprechender Linien einerseits alle platonischen Körper (Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Ikosaeder und Dodekaeder) zu gewinnen, und andererseits entspricht sie auch dem Schöpfungs- bzw. Entstehungsprozeß von Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen. So nimmt die Anordnung der Zellen beim Fötus in der Gebärmutter in einem bestimmten Stadium genau die Form der Blume des Lebens an.
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