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Ein Chip gegen den Diebstahl
Ist das Ende des Diebstahls von beweglichen Gütern gekommen? Glaubt man der IT-Branche ist jedenfalls der Anfang von diesem Ende erreicht. Die Wunderwaffe gegen Diebstahl aller Art heißt RFID, was für "Radio Frequency Idenfication" steht und einen drei Quadratmillimeter großen Chip meint, der, dünn wie ein Haar, mit einer winzigen Antenne ausgerüstet ist und überall implantiert, eingewoben oder versteckt werden kann.
Von Wolfgang Kleinwæchter Das Prinzip ist simpel: Ebenso wie der geografische Ort eines mobilen oder fixen Telefons in Sekundenschnelle festgestellt werden kann, lässt sich auch, sofern man den dazugehörigen Code (oder eventuell auch die zugeordnete IPv6-Adresse) kennt, der geografische Ort des mit dem RFID-Chip ausgestatteten Gegenstandes bis zu einer gewissen Entfernung ermitteln. In Zukunft ließe sich das womöglich in Kombination mit dem GPS auch global erweitern. Die auch als "Smart Tags" bezeichneten Winzlinge wären dann quasi eine Kombination des bisher in vielen Produkten bereits eingebundenen "Barcodes" mit Funktionen, die bislang allein einem Mobiltelefon zurechenbar waren. Hersteller von Produkten aller Art können die mit Smart Tags ausgerüsteten Produkte damit rund um den Globus verfolgen und auf diese Weise ihre gesamte Logistik optimieren. Ja, die eTags könnten auch untereinander in Verbindung treten und damit eine Art kosmische Kommunikation erzeugen. Ich kann nicht nur mit meinem Mobiltelefon herausfinden, wo ich mein Oberhemd am vergangenen Abend hingelegt habe. Der Chip meines Jacketts kann mir auch mitteilen, sein "Hemdencheck" hätte ergeben, dass ich doch ein neues Hemd anziehen soll. Das Ende der Anonymität des Geldes Benneton war eine der ersten Firmen, die diesen Chip in Teile ihrer Produkte einwebte. Der Effekt für den Transport der teuren Produkte vom Produzenten zur Boutique um die Ecke sei für das Unternehmen beachtlich, heißt es. Nützlich ist geografische Identifikation auch bei Haustieren. Entlaufene Katzen und ausgeflogene Kanarienvögel sind so leichter einfangbar. Dringt man etwas tiefer in die Materie ein, entdeckt man schnell, dass sich potenzielle Anwendungsmöglichkeiten ins Unendliche treiben lassen. Auf der jährlichen Olympiade der europäischen Informations- und Kommunikationstechnologieindustrie, der IST 2003 im Oktober in Mailand, war RFID eines der Topthemen war. So wurde etwa erwähnt, dass die Europäische Zentralbank erwägt, irgendwann alle Euroscheine mit dem Wunderchip zu versehen. Dies wäre das Ende der "Anonymität des Geldes", meinte ein Kommentator. Der Weg jedes 5- oder 500-Euro-Scheines ließe sich so nachvollziehen wie der Lauf eines Marathonläufers. Im Einzelfall wüsste die Bank dann genau, in welchem Koffer sich eine gerade gestohlene 100-Euro-Note befindet. EU-Kommisar Likkanen, in Brüssel zuständig für das Thema Informationsgesellschaft, der auf der IST 2003 in Mailand den RFID Workshop höchstpersönlich moderierte, konnte seine Begeisterung für die sich abzeichnende neue Innovationswelle kaum unterdrücken. Milliarden von Chips, die für Anwender durchaus erschwinglich seien, könnten der IT-Industrie einen neuen Schub geben. Er jedenfalls wünsche sich den RFID-Chip zumindest in seinem Auto, seinem Laptop und seiner Brieftasche. Ein doppelschneidigres Schwert Wie alle Errungenschaften seit der Erfindung der Streitaxt ist jedoch auch RFID ein doppelschneidiges Schwert. Die 100prozentige Sicherheit für Brieftasche und Laptop, für Auto und Hauskatze, für 500-Euro-Banknoten und Benetton-Jacken bezahlen wir mit dem totalen Verlust unserer Privatsphäre. Um die beweglichen Güter vor Dieben zu schützen, muss man deren Daten managen. Und es ist kaum vermeidbar, dass die Gütern zurechenbaren Daten weitergelinkt werden zu den Personen, die die Güter benutzen. Benetton kündigt zwar an, dass der RFID-Chip im Jackett nach dem Verkauf liquidiert werden könnte, aber Bürgerrechtler bezweifeln dies, nennen das naiv und fangen an, Alarm zu schlagen. Industriesprecher in Mailand machten kein Hehl aus ihrer Ansicht, dass RFID und die anderen, sich der breiteren Öffentlichkeit kaum erschließbaren Innovationen der dritten Internet Generation wie GRID, IPv6, ENUM etc. in der Tat das "Ende der Privatsphäre" einläuten. Aber das sei ja doch gar nicht so schlimm, gemessen an den Vorteilen die man davon hätte. Die von Technikern vorgenommene "Güterabwägung" lässt jedoch anderen gesellschaftlichen Gruppen das eisige Grausen der Rücken runterrieseln. Es ist ja nicht nur den Staat, der mit seinen Kontrollfunktionen hier schnell einen Schritt zu weit gehen kann. Die Jagd nach Persönlichkeitsdaten kann ebenso schnell zu einem prosperierenden Geschäftsfeld werden. Und dies hat grundlegende Auswirkungen auf fundamentale Rechte und Freiheiten des Individuums in einer demokratischen Gesellschaft. Rechte können zwar durch RFID nicht de jure, aber de facto erheblich eingeschränkt werden. Wenn ich damit rechnen muss, dass jeder meiner Schritte von Dritten verfolgt werden kann, gehe ich ganz andere Wege, als ich sie vielleicht gehen würde, wenn ich frei und unabhängig entscheiden könnte. Mündiger Bürger gefordert wie nie zuvor Die einzige, die in Mailand die Alarmglocken läutete, war Katherine Albrecht, eine engagierte Doktorandin von der Harvard University, die in den USA eine Bürgerbewegung gegen RFID gegründet hat, die "Consumer Against Supermarket Privacy Invasion and Numbering" ( CASPIAN [1]). Albrecht machte in ihrem Vortrag deutlich, dass RFID nicht bei Jacken, Banknoten und Haustieren halt macht. VeriChip, ein amerikanisches Unternehmen, bietet an, RFIDs auch im menschlichen Körper zu implantieren. Als vor einigen Monaten der spektakuläre Fall der "Chipsons" - die Mutter einer sechsköpfigen Familie in Florida wollte die Chips für ihre Kinder haben - bekannt wurde, runzelten einige Senatoren im US-Kongress die Stirn und fingen eine Diskussion an, ob hier eine spezielle Gesetzgebung notwendig sei. Mittlerweile aber ist VeriChip bereits in Lateinamerika aktiv. Katherine Albrecht berichtete, dass dort 2.700 Personen sich den RFID-Chip haben implantieren lassen, um sich auf diese Weise vor Entführungen schützen zu können. Der RFID-Chips ist allerdings nur der Beginn, in Aussicht gestellt werden auch implantierbare Chips, die dann auch die Lokalisierung durch Satelliten ermöglichen. Hätte einer der Sahara-Geiseln, könnte man auch hier einwenden, einen solchen Chip im Nacken gehabt, hätte man sich viel Aufwand sparen können. Aber was sind die Konsequenzen einer solchen Entwicklung? Wie weit geht das? Und wer beaufsichtigt, um nicht zu sagen: kontrolliert das eigentlich? In Mailand konnte man den Eindruck gewinnen, die Techniker seien von ihren endlosen Möglichkeiten derart begeistert, dass die Diskussion der sozialen Implikationen auch des RFID-Chips eher wie ein zweitrangiges Problem oder gar als ein Hindernis gesehen wurden. Soll die dritte Generation des Internet tatsächlich den Segen für die Menschheit bringen, den alle erwarten und erhoffen, dann muss es eine viel engere Kooperation zwischen Ingenieuren und Sozialwissenschaftlern geben. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten und Verbote wären das falscheste aller Reaktionen. Der verantwortungsbewusste Umgang mit neuen Phänomen verlangt wie nie zuvor den mündigen Bürger. Und er verlangt eine breite öffentliche Diskussion. Genau das aber findet in Deutschland viel zuwenig, und wenn, dann im Expertenzirkel, statt. Während sich die Öffentlichkeit am Exhibitionismus des Privaten von sogenannten "öffentlichen Personen" weidet, merkt sie gar nicht, dass auch ihre eigene Privatsphäre immer weiter schrumpft. Quelle: Heise Zeitschriften Verlag, Hannover